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Warum die Schweiz ein Musterland für soziale Innovation sein könnte

Referat von Lynn Blattmann

Die Schweiz ist ein Land, das viele Bewunderer hat – vor allem im Ausland. Wir, die in diesem schönen Land wohnen, haben meist eher kritische Gefühle gegenüber unserer Eidgenossenschaft und unseren Miteidgenossen. Wir legen diese nur jeweils für kurze Zeit ab, wenn wir von einem kürzeren oder längeren Ausflug aus dem Ausland zurückkehren. Dann schätzen auch wir den allgegenwärtigen Wohlstand, die Sauberkeit und die Wohlorganisiertheit unserer Einrichtungen, wir loben die Pünktlichkeit unserer Züge und Uhren, und staunen über die friedliche kulturelle Vielfalt unserer verschiedenen Sprach - und Landesregionen und über die grosse persönliche Freiheit, die wir hier geniessen dürfen.

Weil unser Patriotismus jeweils rasch verfliegt, wird die Qualität der Schweiz auch objektiv gemessen und mit derjenigen anderer Länder verglichen. Auch die Statistiker, nicht gerade eine Berufsgruppe, die für Euphorie bekannt ist, stellen die Schweiz regelmässig als Siegerin aufs Podest. Die Schweiz wurde 2016 im Rahmen des Global Innovation Indexes zum sechsten Mal in Folge als innovativstes Land der Welt, also zum Land mit der innovativsten und effizientesten Volkswirtschaft gekürt. Im Mercer Ranking um die beste Lebensqualität der Welt belegte Zürich hinter Wien 2016 wieder den zweiten Platz und Genf den achten Rang. Wir alle gehören also zum glücklichsten Volk der Erde und leben in einem der besten aller Länder.

Die Frage ist nur, warum sind wir dennoch so unzufrieden? Warum kämpfen wir genau wie unsere Nachbarländer mit einem erstarkenden Rechtspopulismus? Warum gelingt es auch uns nicht, unsere hervorragenden sozialen Errungenschaften den Anforderungen der Zukunft anzupassen? Warum ist unsere Konsensfähigkeit trotz direkter Demokratie und jahrzehntelanger Konkordanzpraxis so massiv gesunken? Warum ist politisches Engagement in diesem Land so unattraktiv geworden, dass sich die Besten nicht mehr dafür interessieren? Warum ist soziale Innovation in unserem Land so schwierig geworden?

Die Antwort: Weil wir immer ins Ausland schauen und glauben von dort lernen zu müssen. Was wir dort sehen ist aber etwas total anderes: Wir sind umgeben von Ländern mit Mehrheitsregierungen und politischen Systemen, die von Regierung und Opposition getrieben sind. Auch im nahen Ausland ist vieles, was auf den ersten Blick ähnlich erscheint, in Wirklichkeit ganz anders. Das machtpolitische Gezeter von Mehrheitsregierungen ist wohl medial spannender, weil es da um identifizierbare Personen geht, egal ob die jetzt Merkel, Renzi oder Trump heissen. Politik ist dort letztlich ein Titanenkampf, der Sieger und Verlierer generiert, aber oft eines verhindert: das Finden von guten Lösungen. Viele der politischen Auseinandersetzungen, die wir von der Schweiz aus fasziniert beobachten, sind ziemlich „postfaktisch“. Sie sind also stärker von Emotionen und politischem Kalkül als vom Wunsch nach Lösungsfindung getrieben.

Wir kommen aus einem ganz anderen Land, nur vergessen wir das gerne. Wir sind eigentlich die weltbesten Pragmatiker, die innovativsten Konsensfinder und wir sind die absoluten Spezialisten der kleinen Schritte. Das klingt zwar etwas spiessig, ist aber eigentlich wahr und eine grosse Stärke unseres Landes, die uns viel zu wenig bewusst ist. Wir vergessen dies und blenden dieses Wissen aus, weil wir so beeindruckt sind vom scheinbar so viel wichtigeren Kampf um Sieg oder Niederlage. Am liebsten wären wir alle Weltbürger, lieber global als federal. In vorauseilender Blindheit laufen die liberalen Kräfte der Schweiz davon, sie wandern zwar nicht aus, aber sie strafen unser Land mit Desinteresse. Zurück bleibt eine dogmatische Linke, die im Moment allen Ernstes darüber nachdenkt, ob sie das Privateigentum nicht doch lieber abschaffen will und eine angstgetriebene Rechte, die die Schweiz nicht versteht, sondern sie zu einem Reduit der Ewiggestrigen zurückbauen möchte.

Die Schweiz hat ihre liberalen Köpfe verloren. Das zeigt sich in der schleppenden sozialen Entwicklung unseres Landes. Interessanterweise hat sich jedoch das Volk bereits in eine ganz andere Richtung aufgemacht, es steht heute an einem ganz anderen Ort als wir, die glauben, besser zu wissen, was unserem Land gut tut. Denn das Volk verhält sich in Bezug auf die Schweiz und ihre Kultur(en) viel unbefangener als wir alle. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes interessieren sich nämlich wieder viel stärker für das, was die Schweiz ausmacht, als wir meinen. Sie tragen die Edelweisshemden nämlich nicht nur um die überforderten Lehrer zu ärgern, sondern weil sie darin ein Zeichen von Swissness sehen, das ihnen wichtig ist. Und sie strömten an einem heissen Wochenende im vergangenen Spätsommer zusammen mit über 250‘000 anderen Menschen in die grösste demontierbare Tribüne der Welt am Schwingfest in Estavayer um die Schaukämpfe im Schwingen, Hornussen und Steinstossen zu sehen und den 900 kg schweren Siegermuni Mazot de Cremo zu bewundern. Ich würde darauf wetten, dass die Leute nicht wirklich wegen dem Muni kamen und wohl auch nicht wegen dem Schwingsport allein. Es ging ihnen vielmehr um ein gemeinschaftliches Erlebnis, um eine Form des Miteinanders, die so ganz anders ist und andere Regeln kennt als ein beliebiges Popkonzert.

Ja, es ist sicher so, dass die Schweiz heute viel mehr ist und kann als man an so einem Schwingfest sehen und erleben kann, die Schweiz ist mehr als eine Kuhtopie und doch hat das eidgenössische Schwingfest gezeigt, dass man auch eher verstaubte Anknüpfungspunkte finden kann für etwas Neues und dass es eine Sehnsucht gibt nach nationaler Identität. Das Publikum jedenfalls fühlte sich angesprochen, 20‘000 Personen haben in der nahen Umgebung des Festplatzes friedlich miteinander campiert, unzählige haben die Schaukämpfe gemeinsam an den diversen Public Viewing Punkten angeschaut, die Facebook Seite des Schwingfestes wurde von den Besuchern und den Daheimgebliebenen an jenem Wochenende im Sommer 2016 über eine Million mal angeklickt, und auf Twitter war esta16 der meistverwendete Hashtag.

Es greift zu kurz, wenn wir über diesen Anlass lächeln, weil wir die Edelweisshemden nicht mögen oder hoffen, uns nicht zur Cervelat Prominenz zählen zu müssen. Dieses Wochenende hat etwas aufgezeigt, was Bundesrat Didier Burkhalter in der Einleitung einer interessanten englischen Publikation der Avenir Suisse von 2015 mit dem sinnigen und vieldeutigen Titel. „Watch the Swiss“ als „Grosse Familie“ bezeichnet hat. Er sagt darin, die Schweiz sei „eine grosse Familie“, die eine „gewisse Menge von Werten teile“. Obwohl ich erstaunt war über die Familenmetapher, da mir noch nie aufgefallen war, dass wir Schweizer „Fascht e Familie“ sind, ist die Idee des kleinsten gemeinsamen Nenners in Form von diesen Werten eine schöne Idee für die nationale Identität der Schweiz.

Welche Werte sind dies? Didier Burkhalter nennt das Streben nach Unabhängigkeit, Wohlstand und Sicherheit als die drei wichtigsten gemeinsamen und verbindenden Werte. Gehen wir doch einmal davon aus, dass es wirklich diese drei Dinge sind, die die Schweiz verbinden. Das tröstliche an diesen drei Werten besteht darin, dass sie durchaus auch im Ausland geteilt werden können und dass sie uns trotz unserer ganz anders gearteten staatlichen und gesellschaftlichen Organisation zu einem zutiefst europäischen Land machen. Wir können nicht frei und unabhängig sein, wenn wir uns nicht zu einem grösseren Ganzen bekennen, unser Wohlstand kann nicht auf einer abgeschotteten Insel verteidigt werden und unsere Sicherheit ist eingebettet in die Sicherheit und den Goodwill unserer Nachbarn.

Die Schweiz ist weniger ein Sonderfall als man lange gemeint hat, aber die Schweiz ist auch nicht einfach ein beliebiges Europäisches Land. Es ist Zeit, dass wir uns wieder verstärkt auf unsere Swissness berufen und diese modernisieren, Swissness ist und kann mehr als „Bschissness“, wie sie oft abschätzig bezeichnet wird.

Wir leben in einem Staat der 1848 gegründet worden ist, und dessen politische und soziale Organisation seither immer wieder weiterentwickelt worden ist. Die Schweiz ist eine Unvollendete. Das ist gut so. Solange es die Schweiz gibt, muss sie jedoch weiter entwickelt werden, das ist unsere Aufgabe. Unsere Gesellschaft muss laufend „verschweizert“ werden um mit der gesellschaftlichen Entwicklung Europas und der Welt mithalten zu können. Wenn uns dies nicht gelingt, werden unserer Errungenschaften erstarren und ihren Sinn nicht mehr erfüllen. Wir werden dann für kurze Zeit in einem Museum leben und dann langsam den Anschluss verlieren, unmodern werden und veralten.

In der Wirtschaft ist diese Botschaft längst angekommen. Da wird seit Jahren innovativ verschweizert. Swissness ist nicht nur für Uhrenmanufakturen, Taschenmesserfabriken und Banken zur Aufforderung zum Wandel geworden. Auch für Kräuterbonbons (Wär häts erfunde?) und Appenzellerkäse ist Swissness zu einem Markenzeichen geworden, das modern, augenzwinkernd und flexibel daherkommt und das eigentlich kein Geheimrezept ist, sondern Vorbildcharakter hat.

Im gesellschaftlichen und politischen Bereich ist das Verhältnis zur Swissness etwas gebrochener. Über die Stärken und Tugenden der Schweizerischen Institutionen und politischen Organisation zu reden, hat immer noch den Ruch der geistigen Landesverteidigung. Es herrscht eine seltsame Indifferenz gegenüber unseren sozialen Errungenschaften und gegenüber unseren politischen Werten. Wer sich nicht zur neuen Rechten zählt, tut sich eher schwer damit und spricht sehr ungern über die eigene Haltung zur Schweizerischen Gesellschaft. Es scheint, als ob es sich dabei um ein Familiengeheimnis handelt. Dabei hat doch unser Staatsverständis fast Modellcharakter: Unser Staat ist kein Machtstaat, und das ist gut so! Es klingt zwar nicht besonders aufregend, in einem Staat zu leben, der weitestgehend auf Machtallüren verzichtet; dafür haben wir ein sehr entspanntes Verhältnis zu unserem Staat. Unser Staat ist nicht unser Feind, den es zu bekämpfen gilt, wir sehen in ihm nicht einen geldgierigen Moloch, der unser Erspartes verschlingt, sondern er ist einfach eine mittelmässig organisierte Organisation, die hin und wieder froh ist über Inputs und Führungskorrekturen seines Volkes. Wir leben mit unserem Staat in Koexistenz, zahlen unsere Steuern und wenn er zu viel Geld ausgibt, dann setzen wir die Sparbremse ein, wie eine Art politisches Magenband. Viel mehr tun wir aber nicht mit ihm. Wir hüten uns davor, unsere politischen Organisationen den modernen Herausforderungen anzupassen, das ist ein Fehler, der uns teuer zu stehen kommen kann, denn dies hat dazu geführt, dass das Interesse an Politik und an sozialinnovativen Lösungen geringer geworden ist. In Appenzell Ausserrhoden beispielsweise hat man die Landsgemeinde wenige Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts aufgelöst und in ein Parlament umgewandelt. Geblieben ist eine politische Leerstelle. Sozial innovativ wäre es jedoch, wenn endlich eine moderne Form für direkte Demokratie im hügligen Appenzellerland erfunden und eingeführt würde, an der auch Frauen teilnehmen und sich einbringen können.

Innovationskraft heisst Originalität, heisst Kreativität, heisst Wandlungsfähigkeit. Wir haben in der Schweiz eine hervorragende wirtschaftliche Innovationskultur, aber im sozialen und gesellschaftlichen Bereich sind wir ähnlich ratlos und wenig innovativ wie die Appenzeller. So haben wir in den letzten drei Jahrzehnten unser Sozialwesen massiv ausgebaut, wir haben unzählige Beratungsstellen und Anlaufstellen und Fachstellen gegründet, und dennoch hat sich die soziale Aufwärtsmobilität in der Schweiz abgeschwächt und der Anteil an Verlierern, also an Menschen, deren Lebensstandard sinkt, hat zugenommen. Unsere Sozialversicherungen, die erst spät geschaffen worden sind und gut aufeinander abgestimmt sind, kämpfen fast alle mit finanzieller Überlastung. Die Zahl derjenigen Menschen, die auch auf lange Sicht kaum mehr Chancen haben, wieder eine existenzsichernde Stelle zu finden, sinkt. Dabei hätten wir seit 169 Jahren ein Instrument in der Hand, das auch in diese Bereiche mehr Innovation bringen könnte: Wir kennen nämlich das Rezept für modernstes Design Thinking. Unter Design Thinking versteht man die Fähigkeit, unterschiedlichste Interessen für hervorragende Lösungsfindungen einzubinden. Es wird heute an vielen Businesschools gelehrt und ist besonders bekannt geworden durch den Chefdesigner von Apple, der zwei erhellende Bücher zu dieser Methode geschrieben hat. Design Thinking wird heute als wirksamstes Instrument zur Erlangung von innovativen Lösungen bezeichnet, es wird in so unterschiedlichen Bereichen angewendet wie Unternehmensführung, Implementierung und Entwicklung von komplexer Software und zur Erarbeitung von innovativen Lösungen für Probleme des Zusammenlebens. Obwohl der schicke englische Begriff „Design Thinking“ erst vor wenigen Jahren erfunden worden ist, haben wir in der Schweiz schon jahrzehntelange Erfahrung mit dieser Methode. Die Organisation und die Institutionen der Schweiz sind das Resultat davon, bei uns hiess die Methode einfach Konkordanz.

Unser Land hat von ihrer Geschichte und ihrer politischen Erfahrung her das beste Rüstzeug für sozialinnovative neue Lösungen für anstehende soziale Probleme. Wir wissen aus Erfahrung, dass auch eine noch so gut bestückte ExpertInnengruppe keine Lösung erarbeiten kann, die ein Problem schweizweit auf einen Schlag lösen kann. Beim Design Thinking geht es - wie auch sonst immer in der Schweiz - nicht um die grossen Würfe, sondern um die Schaffung von Prototypen, die lokal oder überregional erprobt werden können und erst dann in Serie gehen. Dies ist unserer vielgeschmähte Politik der kleinen Schritte, die unserem Land so viel Stabilität gegeben hat. Und genau darum geht es bei der sozialen Innovation: Es geht um neue Lösungen für Probleme des Zusammenlebens, um andere Methoden der politischen Diskussion, um Verbesserungen im Zugang zum Arbeitsmarkt, um die Teilhabe aller Einwohner am Wohlstand und der Sicherheit unseres Landes und um unser Engagement.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen angeregte Diskussionen im folgenden Diskussionsteil!

© 2017 Lynn Blattmann